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Titel
Vom Verbund zum Konzern. Die Metallgesellschaft AG 1945-1975


Autor(en)
Reichel, Clemens
Reihe
Schriften zur hessischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte 8
Erschienen
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn

Die Historisierung des „Wirtschaftswunders“ bzw. Nachkriegsbooms schreitet voran, und auch die Unternehmensgeschichte widmet sich verstärkt jener Phase, die auf den ersten Blick unternehmerisches Handeln kaum vor ernsthafte Probleme stellte. Doch der spätere Erfolg von Unternehmen hängt ursächlich von ihrer Fähigkeit ab, sich in Phasen stabiler Umweltbedingungen zukunftsfähig aufzustellen. Nicht von ungefähr organisierten sich daher seit den 1950er-Jahren Unternehmen immer häufiger divisional, das heißt nach Produktionssparten, und ersetzten damit die funktionale Unternehmensorganisation. Ebenfalls verwissenschaftlichte sich die Betriebsführung, was zum Beispiel im Controlling zum Ausdruck kam, teils durch Adaption US-amerikanischer Managementmethoden. Dies ist als genereller Trend zwar schon länger bekannt, jedoch bislang nur selten auf der Ebene eines Unternehmens analysiert worden.1

Clemens Reichel untersucht daher in seiner Frankfurter Dissertation den organisatorischen Wandel bei der Metallgesellschaft (MG) und fragt insbesondere nach Triebkräften und strukturellen Widerständen, die diesen Prozess begleiteten. Solche Widerstände ergaben sich beispielsweise aus akkumulierten Denk- und Handlungsmustern der Unternehmensführung. Folgerichtig beginnt Reichel seine Untersuchung nicht erst 1945, sondern blickt – mit gut vierzig Seiten indes etwas zu lang – auch auf die Entwicklung seit der Gründung 1881 durch Wilhelm Merton (1848–1916) zurück. Ursprünglich war die familienorientierte Aktiengesellschaft im Nichteisen-Metallhandel tätig, stieg 1897 mit der Metallurgischen Gesellschaft in die Produktion ein und gründete schließlich mit der Berg- und Metallbank 1906 ein branchenspezifisches Finanzierungsinstitut.

Dies begründete Pfadabhängigkeiten, die das Unternehmen auch nach 1945 prägten: Die Familie spielte bis zum Ende der 1950er-Jahre mit Alfred (1878–1954) und besonders Richard Merton (1881–1960) eine zentrale Rolle in der Unternehmensführung, und die traditionell lockere Bindung der Tochtergesellschaften an die Frankfurter Zentrale ließ die MG eher als Verbund denn als Konzern erscheinen – so auch im Selbstbild. Organisatorisch überdauerte die gleichermaßen dezentrale wie personalisierte Führungsstruktur den Zweiten Weltkrieg: Die Tochtergesellschaften wurden meist nur durch Aufsichtsratsmandate der MG-Vorstände kontrolliert, die sich wiederum im MG-Vorstand gegenseitig unterrichteten. Eine solche Organisation war nicht darauf ausgerichtet, Entscheidungsroutinen herzustellen, sondern knüpfte die Unternehmensentwicklung an situative Einschätzungen individueller Akteure. Fast folgerichtig gab es in Vorstand und Aufsichtsrat der MG eine hohe personelle Kontinuität; selbst der Nationalsozialismus veränderte dies nur kurzfristig. So verfügten auch nach 1945 mit Rudolf Euler, Alfred Petersen und Richard Merton die entscheidenden Personen über langjährige Erfahrungen in der MG, hatten die Unternehmenskultur internalisiert und machten sie zur Grundlage der weiteren Entwicklung. Diese Kontinuität war auch deshalb möglich, weil die Aktionäre – zum Beispiel Degussa und Henkel – als strategische Partner fungierten und nur selten Eigeninteressen durchzusetzen versuchten.

Insofern war die Metallgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg noch stark an unternehmensorganisatorischen Vorkriegsvorstellungen orientiert, was sich teils negativ auswirkte, da etwa die hohe Autonomie der Tochterunternehmen Konkurrenzsituationen innerhalb des Verbunds schuf oder eine moderne Kostenkontrolle nur zögerlich eingeführt wurde. Daraus resultierten informatorische und kommunikative Defizite, die zum Problem wurden, als die Metallgesellschaft expandierte: Die Vielzahl der Gesellschaften war kaum mehr durch einzelne Vorstandsmitglieder zu kontrollieren, sondern erforderte standardisierte Verfahren. Ferner hatte die auf alliierten Druck hin durchgeführte Entflechtung dafür gesorgt, tradierte Partnerschaften auf der Aktionärsseite (Degussa) zu beenden, und die neuen Aktionäre, allen voran die Dresdner Bank, waren nicht mehr bereit, die bisherige Unternehmensführung zu unterstützen. Insofern entstand in den späten 1950er-Jahren ein Handlungsdruck, die Unternehmensorganisation zu überdenken – symbolisiert auch durch den wegen Dividendenstreitigkeiten erzwungenen Rückzug Richard Mertons aus dem Aufsichtsrat 1958.

Die Beziehungen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat wandelten sich insofern, als nicht mehr alte „Metallgeschaftler“ das Kontrollgremium dominierten und über personale Beziehungen mit dem Vorstand interagierten. Mit vorwiegend externen Aktionärsvertretern im Aufsichtsrat formalisierten sich Berichterstattung und Entscheidungsgrundlagen: Statistische Aufstellungen traten an die Stelle persönlicher Unterrichtung. Von einem konzernweiten Berichtswesen konnte man indes noch nicht sprechen, da die Zahlen nach wie vor dezentral aufbereitet wurden. Die Marktlage hingegen wurde nicht mehr wie bislang durch rückwärtsgewandte Bezüge zur Zwischenkriegszeit beurteilt, sondern stärker anhand objektivierbarer Kriterien wie Eigenkapitalrentabilität oder Cash-Flow mit anderen Unternehmen verglichen, auch um eine „widerspruchsfreie Planungsbasis“ (S. 206) zu erhalten.

Der Weg der (Konzern-)Zentralisierung, Divisionalisierung und Formalisierung von Abläufen wurde Ende der 1960er-Jahre weiter verfolgt – und damit just in einer Phase, in der der Produktionsbereich der MG mit dem Preisverfall auf den Metallmärkten zu kämpfen hatte. Gleichwohl etablierte der Konzern im Frühling 1972 erstmals – inspiriert unter anderem von Henkel und Siemens, die im Aufsichtsrat der MG vertreten waren – eine multidivisionale Unternehmensstruktur mit den Sparten Metallwirtschaft, Verarbeitung, Anlagenbau, Chemie sowie Transport und Verkehr, während die Bereiche Finanzen, Personal/Verwaltung und Technik konzernweit agierten. Freilich löste diese Modernisierung nicht alle Probleme auf einmal, da insbesondere das Rechnungswesen noch nicht vereinheitlicht war.

Reichel hat eine fokussierte Darstellung vorgelegt, die exemplarisch aufzeigt, welche Kräfte Umstrukturierungsprozesse von Unternehmen beeinflussen – tradierte Unternehmensleitbilder verzögerten, der Wandel von Verfügungsrechten beschleunigte sie –, und welche praktischen Probleme wie die Vereinheitlichung des Rechnungswesens eine rasche Umsetzung erschwerten. Er entfaltet dies quellennah mit bisweilen etwas zu ausführlichen Zitaten (zum Beispiel S. 151 f.). Über Zwischenfazits vergleicht er die MG mit anderen Unternehmen und bettet die Ergebnisse in übergeordnete Zusammenhänge ein.

Kritikwürdig erscheint indes die Analyse der Interaktion von Aufsichtsrat und Vorstand. So arbeitet Reichel heraus (S. 112 f.), dass Anfang der 1950er-Jahre mit Rudolf Euler und Richard Merton zwei von sieben Aufsichtsratsmitgliedern aktiv in die Unternehmensleitung eingebunden waren, und Hermann Josef Abs dürfte mit seinen weitreichenden Kontakten ebenfalls einflussreich gewesen sein, so dass der Aufsichtsrat qua Besetzung und entgegen Reichels Auffassung gegenüber dem Vorstand eher stark als schwach erscheint. Freilich nahm er dabei weniger eine Kontrollfunktion wahr, sondern die Governance der Metallgesellschaft erscheint als kooperatives Modell der Unternehmensführung, wie es seit dem Kaiserreich keineswegs untypisch war.

Ferner konstatiert Reichel den Widerspruch, dass Richard Merton einen direkten Einfluss des Aufsichtsrats auf die Geschäftsführung ablehnte, während er zugleich als Vorsitzender des Kontrollgremiums die Geschicke der Gesellschaft stärker bestimmte als manches Vorstandsmitglied (S. 155). Im Zusammenhang bezog sich Mertons Aussage indes weniger auf den Aufsichtsrat als solchen denn auf externe Kapitaleigner. Dann ergibt auch Reichels Deutung Sinn, der Aufsichtsrat sei seit der Wende zu den 1960er-Jahren „zu einem wichtigen Faktor im Entscheidungsprozess“ geworden (S. 188): An die Stelle personengebundener und damit fragiler Interaktion zwischen den Gremien traten nun formelle Kompetenzabgrenzungen. Gerade diese Passagen lassen die diffuse Aufgabenteilung der Gremien lediglich als spezifisches MG-Problem erscheinen, doch hätte hier eine stärker abstrahierende Problematisierung des Verhältnisses von Unternehmer- und Kontrollfunktion zugleich etwas über Norm und Praxis des Aktienrechts und damit über die Corporate Governance in der frühen Bundesrepublik generell aussagen können. Trotz dieses Einwands ist es Reichel gelungen, ein zentrales Problem der bundesdeutschen Unternehmensgeschichte theoretisch reflektiert und systematisch aufzuarbeiten, und es ist zu wünschen, dass ähnliche Arbeiten folgen.

Anmerkung:
1 Vgl. exemplarisch: Christian Kleinschmidt, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950-1985, Berlin 2002; Susanne Hilger, „Amerikanisierung“ deutscher Unternehmen. Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler-Benz (1945/49-1975), Stuttgart 2004. Als Beispiel für eine missglückte Konzernbildung siehe auch Richard Tilly, Willy H. Schlieker. Aufstieg und Fall eines Unternehmers (1914-1980), Berlin 2008.

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